islamische Philosophie: Vollmacht und Grenzen der Vernunft

islamische Philosophie: Vollmacht und Grenzen der Vernunft
islamische Philosophie: Vollmacht und Grenzen der Vernunft
 
Das Gesetz des Islam ist gegründet auf Offenbarung - auf den Koran als den Text der Offenbarung, ergänzt durch überlieferte Weisungen und Handlungen des Propheten, die Sunna. Aber in seiner Ausgestaltung, Systematisierung und Formulierung ist es das Ergebnis geschichtlicher Erfahrung und rationaler Durchdringung. Die Vernunft sucht die Regel im Besonderen des Rechtsfalles; sie sucht Einsicht in die göttliche Vernunft, - hinter dem Unfasslichen der Offenbarung - Theologie. Wo hat die Vernunft die Grenzen ihrer Erkenntnis zu setzen? Über den Anwendungsbereich und universalen Anspruch des rationalen Wissens kam es zwischen Juristen, Theologen und Philosophen zum Konflikt.
 
In den geistigen Zentren der islamischen Vielvölkergesellschaft bürgerten sich in der Anwendungslehre der offenbarten und überlieferten Rechtsquellen zunächst die Schlussfiguren der Logik ein, wie sie der Hellenismus - die griechische Wissenschaftskultur - der byzantinischen und iranischen Eliten bot und im Dialog einsetzte. In der Verteidigung des Islam und im Dienst der Offenbarung sahen die frühen Theologen die vornehmste Anwendung der Vernunft. Indessen hat die arabische Übertragung der antiken Wissenschaftsquellen eine zweite - philosophische — Bewegung islamischer Wissenslehre vorbereitet. Ihre Grundlage war der arabische Aristoteles: Logik, Wissenschaftslehre, Naturphilosophie und Weltsystem nach der Überlieferung und Deutung der Spätantike. Aristoteles' Werke wurden ergänzt durch Schriften Plotins und seiner Schüler, der »Neuplatoniker«, die die Schöpfung als ewiges »Ausströmen« der ersten Ursache darstellten. Die islamische Philosophie durchschritt drei entscheidende Phasen: Zunächst war sie Ideologie der angewandten Wissenschaften, suchte Harmonie mit der Religionsgemeinschaft; im 10. Jahrhundert wurde sie zur universalen Theorie der Religion und des religiösen Staates entwickelt und schließlich zur Religion für Intellektuelle erhöht.
 
Der Naturwissenschaftler al-Kindi zeigte im 9. Jahrhundert, dass mit den Argumenten der Philosophie das Bekenntnis des Islam, die Einsheit Gottes, unwiderleglich zu demonstrieren war: Alles, was ist, setzt die eine, erste Ursache voraus. Wie die philosophisch gebildeten Ärzte sah er im Streben nach Wissen das höchste Ziel menschlichen Handelns, den Weg zum wahren Glück. Gegenüber der Philosophie der Praktiker aus Medizin und Mathematik gründete al-Farabi ein Jahrhundert später einen neuen, an der Logik des Aristoteles orientierten Begriff der Philosophie als Beweiswissenschaft. Er stiftete die Philosophie des Islam, indem er Offenbarung und Prophetie in eine umfassende Theorie des Kosmos und der Erkenntnis einbezog: Wie die universelle Logik zur Einzelsprache, so verhält sich die absolute Vernunfterkenntnis zum wahren Symbol der Offenbarung für die Religionsgemeinschaft, die durch den Propheten als Weg zur Wahrheit für alle gegeben ist. Der Philosophenkönig (nach Platons Buch vom Staat neu konzipiert) bewahrt den Staat durch Wissen; ohne Philosophie ist die religiöse Staatsgemeinde auf die Nachfolge des Propheten im Glauben verwiesen, doch durch die Zweifel der Deutung und die Anfechtungen der Irrlehre gefährdet. Ohne Einsicht in die universale Seinsordnung kann das Gemeinwesen, auch unter dem Islam, nicht Bestand haben.
 
Als Vollender des philosophischen Weltbildes im Islam kann Ibn Sina (Avicenna) gelten; er schrieb zu Beginn des 11. Jahrhunderts die Enzyklopädie des alten Wissenschaftskanons neu und deutete das Wort der heiligen Schrift als Symbol der absoluten Wahrheit in der Begrifflichkeit des Aristotelismus; Avicenna präzisierte den Gottesbeweis mithilfe der Theologie: Alles Zeitlich-Mögliche bedarf einer ersten Ursache, die ewig-notwendig ist; mit seiner ewigen Ursache koexistiert ewig das Weltganze. Aber dem Schöpfungsglauben war seit jeher die Ewigkeit der Welt anstössig; denn sie war unvereinbar mit dem Glauben an einen Gott, dessen Willen und Wort die Schöpfung an den Beginn der Zeit setzt. Wenngleich neu begründet, bleibt diese Lehre auch in Avicennas Philosophie die Zielscheibe theologischer Kritik.
 
Es war Avicennas Interpretation des philosophischen Weltbildes, die die Philosophie, schließlich auch die Theologie des islamischen Ostens prägte. Aber zunächst formulierte der große Theologe des 11./12. Jahrhunderts al-Ghasali deren maßgebliche Zurückweisung. Zwar stellte er die Logik der Philosophen - ein neutrales Instrument - in den Dienst der religiösen Wissenschaft. Aber nach anfänglicher Annäherung an die Philosophie Avicennas wies er die Kosmologie der Philosophen - die Lehre von der Ewigkeit der Welt - zurück; sein Buch von der »Haltlosigkeit« der Philosophie war ein Signal, das weithin und nachhaltig wirkte. Vor der unermesslichen Weisheit Gottes wies er den absoluten Wissensanspruch der Philosophie in die Schranken. Sie unterwarf den Willen des Allmächtigen den Beschränkungen menschlicher Vernunft und Moral. Eine schwere innere Krise führte Ghasali zur Aufgabe seines Lehramts an der angesehensten Bagdader Rechtsschule und zum radikalen Zweifel an der Gewissheit der Vernunft. Er erkannte den Weg des Heils in der Nachfolge der Sufija, der Mystiker: den Weg der Gottesfurcht, der Enthaltsamkeit und der Meditation.
 
Die traditionistische Bewegung, die seit dem 11. Jahrhundert um sich griff, und für die auch Ghasali sprach, einigte soziale Schichten, ethnische Gruppen, pragmatische und mystische Frömmigkeit; aber sie beschränkte auch die Vielfalt geistiger Auseinandersetzung. Die Hüter der islamischen Lehrüberlieferung verpflichteten Recht und Staat auf die Beobachtung der Sunna, der von ihnen kodifizierten Prophetentradition, als letzter Instanz, entwickelten subtile Methoden der Analogie und Auslegung und verurteilten die Anmaßung der souveränen Vernunft: Überlieferung wurde hier zum Gegenpol der Vernunft. In der Lehrstätte des orthodoxen Rechts, der Medrese, entstand die Institution dieser Bewegung; stets einer der anerkannten Lehrtraditionen gewidmet und den Weisungen hochgestellter Stifter folgend fungierte sie als religiöses und zugleich politisches Lenkungsinstrument der Führungsschicht. Die islamische Rechtgläubigeit hat nicht in der Dialektik der Theologen (dem Kalam) ihren allgemein gültigen Ausdruck erhalten, sondern in der Auslegung des Rechts. Andererseits hat die Sprache der Philosophie als Instrument der Kritik Ghasalis den Weg zur Hellenisierung der Theologie, und damit zur Scholastik des Islam bereitet. Seine Kritik der Philosophie mit ihren eigenen Mitteln hat auch die Theologie geprägt. Die Philosophie Avicennas und die Kritik Ghasalis führten zur fortwährenden, gegenseitigen Durchdringung von Theologie und Philosophie. Die Theologie musste die Ewigkeit der Welt, den alten Stein des Anstoßes, eliminieren. Erst um dem Preis der Unterordnung im Dienst der Theologie konnte die philosophische Lehre ihren Platz in einem Kanon erringen, der als Lehrstoff der Rechtsschule, der Medrese, gesichert blieb.
 
Der spanisch-arabische Philosoph Averroes war der letzte Verteidiger des absoluten Anspruchs rationaler Wahrheitsfindung. Seine Verteidigung des philosophischen Weltbildes gegenüber der Kritik des Ghasali und sein leidenschaftliches Plädoyer für die Wesensgleichheit des philosophischen Glaubens mit der offenbarten Religion - »Der Wahrheit widerspricht die Wahrheit nicht!« - begründen seinen Rang als Vollender der Philosophie hellenistischen Erbes im Islam; das monumentale Kommentarwerk zu Aristoteles begründete seinen Nachruhm bei den europäischen Philosophen des Mittelalters: ein groß angelegtes Unternehmen zur Rechtfertigung des Aristoteles gegenüber abweichenden Lehrmeinungen, zur Verteidigung der wahren Philosophie.
 
Die im Osten des Mittelmeers nie abgerissene Überlieferung des griechischen Erbes bewährte sich demnach als Tradition der rationalen Wissenschaften, die mit den religiösen Wissenschaften des Islams konkurrierten, sich an ihnen abarbeitete und sie durchdrangen, und deren gemeinsame Formen der Vermittlung die aufsteigenden Universitäten des Westens befruchten konnten.
 
Prof. Dr. Gerhard Endress

Universal-Lexikon. 2012.

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